Sally Haslanger: „Um einen sozialen Wandel zu bewirken, müssen wir die Kultur verändern“ (2024)

Frau Haslanger, zu Beginn Ihrer Karriere haben Sie sich vor allem mit metaphysischen Fragestellungen auseinandergesetzt. Mit den Themenfeldern „race“ und Gender haben Sie sich ausschließlich im Aktivismus beschäftigt. Erst später haben Sie diese Themen auch wissenschaftlich behandelt. Welche Erkenntnisse aus der Metaphysik helfen uns heute, um soziale Kategorien wie Gender und „race“ zu verstehen?

In meiner damaligen Forschung habe ich mich vor allem dafür interessiert, wie Dinge trotz Veränderung bestehen bleiben. Alles verändert sich ständig und die Frage ist, wie etwas dasselbe und doch auch anders sein kann. Nach der aristotelischen Vorstellung haben Substanzen essenzielle und kontingente Eigenschaften. Die essenziellen Eigenschaften sind diejenigen, die uns zu dem machen, was wir sind und die kontingenten Eigenschaften sind diejenigen, die sich verändern. Diese Unterscheidung treffen wir auch noch heute. Als ich anfing, mich mit „race“ und Gender zu beschäftigen, hat man damit begonnen, Geschlecht als sozial konstruiert zu bezeichnen. Für mich war unklar, was damit gemeint war. Mein Hintergrund in Ontologie und Metaphysik hat mir dabei geholfen, es zu verstehen.

Inwiefern?

Über Generationen hat man das Frau-Sein als eine essenzielle Eigenschaft begriffen. Wenn Leute nun davon sprechen, dass Geschlecht sozial konstruiert sei, sagen sie unter anderem, dass das Geschlecht und somit das Frau-Sein keine essenzielle, sondern eine kontingente Eigenschaft einer Person ist. Diese Differenzierung finden wir in allen Dingen. Nehmen wir zum Beispiel Milch. Es gibt Hafermilch und Kuhmilch. Die Milchindustrie sagt, dass Hafer-, Soja- und Mandelmilch nicht als Milch bezeichnet werden sollten, weil es keine Milch sei, da sie nicht von Kühen stammt. Es stellt sich die Frage: Was ist für die Milch wesentlich? Muss sie notwendigerweise von Kühen sein? Die Frage ist mehr als nur eine sprachliche Angelegenheit. Tatsächlich handelt es sich um eine Frage der gesellschaftlichen Funktion: Beziehen wir den Begriff der Milch nur auf die Flüssigkeit, die von Kühen erzeugt wird oder lassen wir zu, dass Milch ein funktionaler Begriff ist, der angibt, dass man mit dieser Flüssigkeit kochen oder sie in den Kaffee geben kann. Die gleiche Verschiebung hat hinsichtlich des Konzepts „Frau“ stattgefunden. Die Frage ist dann: Bezeichnet der Begriff „Frau“ einen gebärfähigen Menschen oder ist er eher ein funktionaler Begriff, wonach eine Person eine Frau ist, wenn sie in der Gesellschaft auf eine bestimmte Weise funktioniert? In diesem Verständnis kann man sagen, dass Geschlechter kontingente Eigenschaften sind, die wir haben, weil wir in einem bestimmten sozialen System leben. Diese Einsicht ist etwas Metaphysisches, denn es geht darum, was für etwas möglich ist und was notwendigerweise darin enthalten ist. Das führt mitunter zu viel Verwirrung. Wir sind darüber verwirrt, was wesentlich ist und was nicht.

Bei den diesjährigen Benjamin Lectures in Berlin setzen sie sich mit den Möglichkeiten eines sozialen Wandels auseinander. Warum brauchen wir einen sozialen Wandel?

Unsere derzeitige Gesellschaftsform ist zutiefst ungerecht und unterdrückend. Sie ist sexistisch, rassistisch, ausbeuterisch und nicht zuletzt diskriminierend gegenüber Behinderten. Unser Ziel sollte sein, eine Gesellschaft zu bilden, in der Unterschiede zwischen „races“, Geschlechtern sowie Behinderten und Nicht-Behinderten nicht mit Machtunterschieden einhergehen. Wir müssen auf eine Gemeinschaft hinarbeiten, die egalitärer und demokratischer ist und den Wert eines jeden Lebens stärker anerkennen.

Mit einem sozialen Wandel meinen Sie also die Veränderung der Gesellschaft, sodass es weniger Formen der Diskriminierung, Ausbeutung und Unterdrückung gibt?

Richtig.

Wir leben in liberalen Gesellschaften, in denen man stolz darauf ist, gleiche Rechte für alle zu haben. Warum reicht das nicht?

Es gibt eine gängige Vorstellung von Rechten als negative Rechte. Ein Recht zu haben, bedeutet demnach, eine Art Schutzblase um sich zu haben, die einen davor bewahrt, dass sich Leute in private Angelegenheiten wie Religion, die Beziehung oder Fragen des Körpers einmischen können. Ich glaube, dass das nicht ausreicht. Wir müssen vielmehr die Idee eines positiven Rechts, das uns unterstützt, unsere Ziele zu erreichen, in das Zentrum unseres Denkens rücken. Denn in einer Gemeinschaft sind wir aufeinander angewiesen. Lebensmittelproduktion, Bildung oder Liebe sind Dinge, die nur in der Gemeinschaft zu erfüllen sind. Wenn wir das Recht nur als Nichteinmischungsrecht verstehen, dann verlieren wir die Bedeutung dieser menschlichen Interdependenz aus den Augen. Wenn wir also darüber nachdenken, wie wir die Welt gestalten wollen, müssen wir uns klarer darüber werden, welche Bedürfnisse die anderen Mitmenschen haben und wie diese erfüllt werden können. Es wäre aber falsch zu denken, dass das Recht dies alles leisten kann. Der Staat ist vor allem für die Regelung des öffentlichen Raums verantwortlich. Viele Verbrechen jedoch geschehen im Privaten, wie das Schicksal vieler Frauen zeigt. Auch fällt die Arbeitsverteilung im Haushalt wie Kinderbetreuung oder Altenpflege immer noch zu Ungunsten von Frauen aus. Die Forderungen, dass der Staat noch weiter in das Privatleben eingreift und etwa sagt wie die Arbeitsteilung im konkreten auszusehen hat, halte ich für falsch. Wenn wir uns nur auf den Staat und die Möglichkeit einer rechtlichen Regulierung konzentrieren, dann entgeht uns diese entscheidende Dimension des menschlichen Lebens.

Sie betonen in Ihren Texten immer wieder, dass es nicht ausreicht, das falsche Bewusstsein von Menschen – beispielsweise die Vorstellung, dass durch eine rechtlich formale Gleichheit bereits gesellschaftliche Gleichheit erzeugt sei – zu kritisieren. Warum?

Weil das Bewusstsein allein nicht automatisch etwas an der Praxis ändert. Denn nur weil man sich als Einzelner einer Sache bewusst ist, heißt das noch lange nicht, dass man ein Leben führen kann, das diesem Bewusstsein entspricht. Man muss die Welt verändern, um diesem Bewusstsein gerecht werden zu können. Man kann beispielsweise zu der Einsicht kommen, dass es gut wäre, nicht mehr Auto zu fahren, weil man damit weniger die Umwelt verschmutzt. Wenn man jedoch auf dem Land lebt und eine öffentliche Infrastruktur fehlt, hilft diese Einsicht den Menschen wenig. Sie sind aufgrund der Konstruktion unserer Welt gezwungen, sich mit dem Auto fortzubewegen. Man muss die materiellen Bedingungen ändern. Erst dann ist eine neue Art und Weise zu leben und damit die Verwirklichung der bewussten Erkenntnis möglich. Konkret heißt das ein Umdenken hinsichtlich der gesellschaftlichen Verteilung von Ressourcen und der Strukturierung der Umwelt.

Wie ist ein sozialer Wandel möglich?

Es gibt drei verschiedene Möglichkeiten, einen sozialen Wandel anzustoßen: Man kann erstens versuchen, die materiellen Bedingungen zu verändern. Dies kann durch Streiks oder Blockaden geschehen. Solche Aktionen verändern die Art und Weise, wie Menschen sich bewegen. Sie stören gewohnte Abläufe und bringen dadurch die Leute dazu, sich mit den Forderungen auseinanderzusetzen. Dadurch haben sie das Potenzial, dass Menschen anfangen zuzuhören und sich zu solidarisieren. Man kann zweitens die kulturelle und soziale Bedeutung von Dingen verändern. Ich bin in einer Schule zu einer Zeit aufgewachsen, wo alle Mädchen immer Röcke tragen mussten. Eines Tages kam es zu einem Protest aller Mädchen. Zum Abendessen trugen alle eine Hose. Wir haben uns über die Norm hinweg und damit gemeinschaftlich ein Zeichen gesetzt: Wir haben nicht nur klar gemacht, dass wir in Zukunft Hosen tragen werden, sondern dadurch auch dem Tragen von Hosen eine andere Bedeutung gegeben. Wir haben die kulturelle Zuschreibung, was es bedeutet, ein Junge oder Mädchen zu sein, verändert. Die dritte Möglichkeit ist natürlich die politische und rechtliche Veränderung. Trotz der oben genannten Einschränkung, ist dies ein wichtiger Teil des sozialen Wandels. Er darf bloß nicht als Allheilmittel betrachtet werden. Denn auch wenn man Gesetze verändert, bedeutet das nicht, dass sich auch die Lebensrealitäten verändern.

Was blockiert den sozialen Wandel heute?

Ein wichtiger Punkt sind die Traditionen und Gewohnheiten, in die die Menschen eingebettet sind. Sie sind eng verbunden mit ihren Identitäten und geben ihnen Sicherheit. Manche Traditionen und Gewohnheiten und die sich aus ihnen ergebenden Identitäten reproduzieren jedoch unterdrückende Systeme wie das Patriarchat oder die weiße Vorherrschaft und müssen deswegen aufgegeben werden. Dieses Hinterfragen stabilisierender Gewohnheiten und Normen bedroht auf gesellschaftlicher Ebene das Sicherheitsgefühl vieler Menschen. Sie haben Angst, dass die Ordnung auseinanderfällt. Nicht-binäre Personen beispielsweise verunsichern viele, weil die Menschen nicht wissen, wie sie mit ihnen umgehen sollen. Ihre Präsenz überschreitet eingeübte Handlungsnormen. Zudem stellt sich für viele die Frage, welche Folge die Infragestellung von Geschlechternormen für das Familienbild hat, das ihnen Sicherheit gibt. Durch die Ablehnung nicht-binärer Lebensformen wollen sie eine solche Unsicherheit vermeiden. Doch auch für die Personen, die ihre Individualität ändern, ist es schwierig. Sich als Individuum zu hinterfragen und sich jenseits der gewohnten Normen zu begreifen, bedeutet, gedanklich den gewohnten Rahmen zu verlassen. Das ist verunsichernd, was viele Leute daran hindert, diesen Schritt zu gehen. Und letztlich gibt es natürlich auch Menschen, die einfach ein Interesse daran haben, ihre gesellschaftliche Machtposition aufrechtzuerhalten: So sind Reiche beispielsweise nicht an einer Gleichverteilung von Besitz interessiert.

Welche Rolle spielt die Theorie für den sozialen Wandel?

Theorie kann tiefere Ursachen für soziale Probleme erklären. Nehmen wir das Beispiel von Rassismus in den USA. Die Theorie kann zeigen, dass nicht nur eine rassifizierte Ungleichstellung fortbesteht, sondern auch, dass diese historisch eng mit dem Kapitalismus verknüpft ist. Auf den ersten Blick scheint nach der Abschaffung der Rassegesetze Gleichheit zu bestehen. Doch faktisch zeigt sich, dass noch immer eine ökonomische und soziale Ungleichheit entlang von rassifizierten Grenzen aufrechterhalten wurde. Eine tragende Rolle spielen dabei die Eigentumsverhältnisse, die sich mit der Befreiung der Sklaven nicht geändert haben und deswegen vor allem nicht-weiße Menschen dazu zwingen, ihre Arbeitskraft ausbeuten zu lassen. Für die kapitalistische Wirtschaft ist das ein wichtiger Faktor, weil sie auf diese billigen Arbeitskräfte angewiesen ist. Um diese historische Kausalität zu erklären, bedarf es der Theorie. Erst aus dieser Analyse heraus, begreift man, dass Rassismus kein Problem eines bösen Willens ist, wie viele Leute glauben, sondern Ergebnis einer historischen Entwicklung und in diesem Sinne strukturell. Doch Theorie allein reicht letztlich nicht.

Was braucht es außerdem für den sozialen Wandel?

Für den sozialen Wandel ist das Wissen der Betroffenen unabdinglich. Es hilft uns zu verstehen, was falsch läuft. Ich bin davon überzeugt, dass man manche Dinge nur in der Praxis lernt. Wenn man darüber nachdenkt, was sich in unserem täglichen Leben ändern muss, sollte man sich in die Praxis begeben und anfangen, Dinge anders zu machen. Erst dann sieht man, was funktioniert und was nicht. Diese Erkenntnis gilt es dann in die Theorie zurückzuführen. Die Praxis bietet eine eigene Form des Verstehens, die eine eigene Quelle des Wissens sein kann.

Wie muss eine erfolgreiche Gesellschaftskritik aussehen.

Weder kann es darum gehen, auf einer Mikroebene die Herzen und Köpfe der Menschen zu verändern, noch auf einer Makroebene darauf zu zielen, den Kapitalismus abzuschaffen. Sozialer Wandel muss auf einer mittleren Ebene stattfinden, wo man sich mit anderen Menschen abstimmt und gemeinsam darüber nachdenkt, wie man konkrete Praktiken anders machen kann. Man fängt an, das eigene Verhalten zu ändern und bringt dann in einem Kollektiv oder einer Bewegung andere Menschen dazu, ihr Verhalten zu hinterfragen. Wenn man anfängt als Gruppe, „Nein“ zu sagen, entsteht eine soziale Bewegung, die die Kraft hat, gesamtgesellschaftlich etwas zu verändern.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Man bringt beispielsweise Frauen in einer Ehe dazu zu sagen: „Tut mir leid, ich werde die Wäsche nicht mehr waschen, aber ich zeige dir, wie das geht.“ Das ist ein Wandel der sozialen Praxis, dessen Erfolge heute mitunter bereits sichtbar werden. Während in meiner Jugend kein Mann die Wäsche auch nur angerührt hat, übernehmen heute mehr und mehr Männer selbstverständlich diese Aufgabe. Dasselbe gilt für die Kindererziehung oder den Haushalt. Das sind große Veränderungen, die sich ergeben haben, weil Frauen gesagt haben: „Das mache ich nicht mehr.“ Aber natürlich stand auch diese Veränderung im Kontext verschiedener Zwänge und ist komplexer. So mussten Frauen auch anfangen zu arbeiten, weil sie wirtschaftlich dazu gezwungen waren, weil das Gehalt des Mannes nicht mehr zur Versorgung ausgereicht hat.

Der Titel Ihrer Benjamin Lectures lautet Agents of Possibility – The Complexity of Social Change. Was macht die Komplexität des sozialen Wandels aus?

Es gibt drei verschiedene Arten von Systemen. Zum einen mechanische Systeme, wie eine Spülmaschine oder einen Automotor. Sie bestehen aus einzelnen Teilen, die in der Einheit eine Funktion erfüllen. Diese Systeme sind weitestgehend berechenbar. Dann gibt es dynamische Systeme wie den menschlichen Körper oder ein Ökosystem. Hier stehen die Teile in einem komplexen Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Eine Handlung des einen Körpers verändert den anderen, was wiederum Auswirkungen auf andere Körper hat und somit auf die gesamte Struktur. Das System vollzieht einen ständigen Wandel und ist deswegen nur schwer vorhersehbar. Letztlich gibt es noch absolut chaotische Systeme, die gar nicht vorhersehbar sind. Eine Gesellschaft entspricht der zweiten Systemart. Sie ist weder mechanisch noch chaotisch, aber in sich sehr komplex. Viele Theorien, die über den sozialen Wandel nachdenken, verstehen die Gesellschaft wie ein mechanisches System und denken, dass man einfach an einzelnen Stellschrauben, beispielsweise Gesetzen, drehen muss und dann wird sich alles zum Guten verändern. Das halte ich für falsch.

Wieso?

Ich denke, das ist zu einfach, weil es die gegenseitige Abhängigkeit der einzelnen Teile im System nicht berücksichtigt. Am Beispiel der Rassetrennung in den USA zeigt sich, dass die Veränderung von Gesetzen nicht zur Aufhebung der Segregation geführt hat, weil innerhalb der Kultur weiterhin verschiedene Mechanismen existieren, die die Trennung aufrechterhalten. Um einen sozialen Wandel zu bewirken, müssen wir die Kultur verändern. Dafür müssen wir über schrittweise Veränderungen an einflussreichen Punkten nachdenken, die die Dynamik des Systems verändern; in der Hoffnung, dass sich dieser Einfluss positiv auswirkt.

Was verstehen Sie unter Kultur?

Oft sprechen wir beispielsweise von der deutschen oder französischen Kultur, im Sinne einer Lebensweise und Werten, die für eine bestimmte Gruppe von Menschen charakteristisch sind. Das meine ich nicht. Ich verstehe unter Kultur soziale Bedeutungen, die mit Dingen und Praktiken gesellschaftlich verbunden sind, wie etwa ein nachmittägliches Kaffeetrinken. Kaffeetrinken ist eine soziale Praxis des Miteinander-Verkehrens, die von ungeschriebenen Normen bestimmt ist: Es ist klar, dass man keine große Mahlzeit isst, dafür aber vielleicht einen Keks; anders als bei einem großen Dinner ist es in Ordnung, wenn es nicht lange dauert. Gleichzeitig hat auch der Keks eine soziale Bedeutung. Er kann beispielsweise Geschlechterfragen aufbringen, wenn eine Frau überlegt, ob sie ihn essen darf oder nicht, weil sie aufgrund gesellschaftlicher Schönheitsvorstellungen nicht dick werden möchte. All unsere Interaktionen und alle Dinge haben soziale Bedeutungen. Und in ihrer Gesamtheit prägen diese Bedeutungen eine Kultur.

Kultur ist also sowohl ein Produkt der Gesellschaft als auch im Bourdieuschen Sinne Habitus schaffend?

Ja genau. Es ist zirkulär. Aber die Kultur und unsere Handlungen stehen auch in einem sich gegenseitig beeinflussenden Verhältnis mit der Materie. Der Mensch ist zwar in der Lage, die Welt nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Aber die Welt ist nicht unendlich formbar und erweist sich als widerständig, was wiederum Einfluss auf unser Verhalten hat. Unsere Handlungen werden von der Welt geformt, genauso wie wir auch die Welt formen.

Wer sind die „Agents“ des sozialen Wandels?

Grundsätzlich sind wir alle Akteure, weil wir alle die Möglichkeit haben, auf das System Einfluss zu nehmen. Aufgrund der beschriebenen Komplexität können schon kleine Veränderungen einen großen Unterschied machen. Wenn wir uns selbst und uns gegenseitig dazu befähigen, andere Praktiken zu etablieren, kann das bereits zu einem positiven sozialen Wandel führen.

Es gibt also keine speziellen „Agents“ wie etwa das Proletariat, Frauen oder Nicht-Weiße, die besonders für den sozialen Wandel prädestiniert sind?

Doch gibt es. Manchmal gibt es charismatische Führungspersönlichkeiten, die eine Vision haben und andere für diese Vision begeistern können. Auch Menschen, die systematisch unterdrückt werden, können unter Umständen eine besondere Stellung einnehmen, da sie über ein spezifisches Wissen von bestehenden Problemen verfügen, das sich aus ihrer Lage ergibt und zu einem besseren Verständnis der Probleme beitragen kann. Jedoch denke ich nicht, dass die bloße Zugehörigkeit zu einer marginalisierten Gruppe an sich ein besonderes Wissen generiert. Als Frau hat man natürlich ein Wissen darüber, wie es ist, als Frau in dieser Welt zu leben, aber nicht zwingend eine kritische Perspektive darauf. Im Gegenteil halten sogar viele Frauen die jetzige Rollenzuschreibungen für gut. Sie fühlen sich in dieser Position sicher und haben Angst vor Alternativen. Sie wissen nicht, wie ihr Leben wäre, wenn die Herrschaftsverhältnisse nicht wären, wie sie sind und sehen deswegen einen Wert im Bestehenden. Wir können also nicht davon ausgehen, dass alle Mitglieder einer untergeordneten Gruppe über ein kritisches Bewusstsein verfügen und uns ein Wissen darüber vermitteln, wie die Dinge sein sollten.

Wenn Normen gesellschaftlich erlernt werden und dementsprechend als historisch kontingent zu begreifen sind, woher wissen wir dann, dass die Normen, auf denen die Gesellschaftskritik beruht, die richtigen sind? Wie können wir über das Weltbild anderer Menschen urteilen? Wie können Sie zu den Frauen sagen, dass sie, obwohl sie glücklich sind, falsch liegen?

Simone de Beauvoir sagt in der Einleitung zu „Das andere Geschlecht“, dass nicht Glück, sondern Befreiung das Ziel ist. Dem stimme ich zu. Menschen können glücklich sein, weil ihre Erwartungen so weit heruntergeschraubt wurden, dass sie das, was sie haben, als ausreichend empfinden. Sie haben nicht die Möglichkeit sich vorzustellen, was für sie überhaupt möglich sein könnte. Und so sind sie zufrieden. Es reicht aber nicht aus, viele zwar glückliche, aber verkümmerte und eingeschränkte Menschen zu haben. Es gilt, nach mehr zu streben.

Doch woher weiß man, was der richtige Weg ist?

John Stuart Mill hat dafür plädiert, ein Gedankenexperiment durchzuführen, bei dem die Menschen mit zwei Optionen konfrontiert werden. Die erste ist die gegenwärtige Lage. Die andere ist ein Zustand, in dem bestehende Einschränkungen der ersten Option nicht mehr vorhanden sind. Dabei geht es nicht darum, sich irgendwelche Utopien auszudenken, sondern Szenarien zu wählen, die real sind, vielleicht schon in der Gesellschaft existieren oder zumindest in ihr potenziell angelegt sind. Praktisch können wir uns eine Situation vorstellen, wo Frauen keine Bildung erhalten, auf die häusliche Sphäre beschränkt sind und trotzdem zufrieden. Was wäre, wenn die Frauen, wie die mit ihnen lebenden Männer, die Möglichkeit gehabt hätten, sich ohne negative Begleitumstände zu bilden? Würden sie sich dafür entscheiden? Mit Mill denke ich, dass eine Person, die die Möglichkeit hat, unter anderen Bedingungen zu leben, die ihr mehr Freiheiten bietet, sich immer dafür entscheiden würde.

Bildung ist sicher ein Beispiel, bei dem die meisten zustimmen würden. Aber wir sind gesellschaftlich in einer Situation, wo Feministinnen andere Frauen kritisieren und diese Frauen sagen: „Ich fühle mich nicht unfrei. Ich finde die Lage gut, wie sie ist.“ Mit welchem Recht können wir ihnen sagen, ihr liegt falsch?

Das sind zwei verschiedene Fragen, zwischen denen man differenzieren muss. Was wollen wir Frauen zur Verfügung stellen und wozu wollen wir sie zwingen? Ich bin nicht der Meinung, dass eine Frau, die zu Hause bleibt, sich um ihre Kinder kümmert und keine Karriere anstrebt, zwangsläufig etwas falsch macht. Wenn es ihre Entscheidung ist, soll sie das tun und glücklich sein. Was mich beunruhigt, ist, dass es sich oft nicht um eine echte Entscheidung handelt. In vielen Fällen wird ihnen eine Entscheidungsstruktur vorgegeben, in der alternative Optionen sehr schlecht aussehen, entweder weil sie in einer sozialen Gemeinschaft leben, in der es für Frauen verpönt ist, Karriere zu machen oder die Familie es sich nicht leisten kann, dass die Frau eine Ausbildung macht. Es gilt sicherzustellen, dass die Wahlmöglichkeiten, die Frauen haben, gut sind und sie nicht zwischen schlechten Optionen festsitzen. Wir müssen dafür sorgen, dass es genug Wahlmöglichkeiten gibt, dass es wirklich ihre Entscheidungen sind und nicht die der Gesellschaft, in der sie leben, und dass sie nicht durch wirtschaftliche Bedingungen in ihrer Entscheidung bestimmt werden.

Ist die Methode zur Bekämpfung von „Race“- und Genderdiskriminierung gleich?

In beiden Fällen müssen die materiellen Bedingungen, d.h. sowohl die Ressourcen als auch die Möglichkeiten, die den verschiedenen Gruppen zur Verfügung stehen, geändert werden. Außerdem müssen sich die Bedeutungen, die wir dunkler Hautfarbe und weiblichen Körpern geben, ändern – also die Kultur im bereits erwähnten Sinn des Wortes. Aber da die Phänomene von „race“ und Gender auch entscheidende Unterschiede aufweisen, müssen im Konkreten auch die Handlungsstrategien anders aussehen.

Was sind diese Unterschiede?

Ein wichtiger Unterschied zwischen „race“ und Gender besteht darin, dass Frauen – wie Simone de Beauvoir sagt – mit dem Feind leben und dies auch in Zukunft weiter tun werden. Nicht-Weiße Menschen können unabhängig von Weißen unter sich leben und eigene Gemeinschaften gründen, in denen sie sich gegenseitig unterstützen. Diese Möglichkeit steht vielen Frauen so nicht zur Verfügung. Sie können nicht sagen: komm, wir ziehen alle in ein anderes Land.

Aber nicht alle Männer sind der Feind, oder?

Nein, das sind sie nicht. „Leben mit dem Feind“ war ein Slogan der feministischen Theorie.

Junge Männer stehen heutzutage vor der Frage, wie sie sich verhalten sollen, um selbst nicht das Patriarchat zu reproduzieren. Haben Sie einen Rat?

Bernard Williams hat diesen wunderbaren Satz gesagt, dass die größte Herausforderung für eine Gesellschaft darin besteht, den Menschen einen Rahmen zu geben, der es ihnen ermöglicht, sich gegenseitig zu verstehen, zu kommunizieren und miteinander zu handeln, der aber zugleich nicht das Individuum erdrückt, das versucht, ein lebenswertes Leben zu führen. Das ist eine Gradwanderung. Wir sind jetzt in einer Phase, in der wir damit spielen, welche Strukturen wir aufgeben und welche nicht. Weil der Rahmen aber nicht festgelegt ist, führt das dazu, dass wir uns ungebunden fühlen und nicht mehr wissen, wer und was wir sind. Was wir brauchen ist eine freie Gesellschaft, die es erlaubt, man selbst zu sein, die aber zugleich strukturiert genug ist, dass die individuelle Freiheit auf eine Art und Weise besteht, die für einen selbst und für andere sinnvoll ist. Ein Gleichgewicht zu finden, man selbst zu sein, ohne dabei die alten Strukturen zu verfestigen, ist in einer Zeit, in der sich alles ziemlich dramatisch verändert, nicht einfach. Das gilt für Männer und Frauen, nicht-binäre Menschen und Trans-Menschen gleichermaßen. Wir haben alle damit zu kämpfen.

Es gibt Sozialtheorien, wie etwa die von Nancy Fraser, die davon ausgehen, dass unterdrückende Herrschaftsstrukturen wie „race“ und Gender nicht nur Produkte des historischen Kapitalismus sind, sondern auch bis heute noch eng damit verbunden sind. Dabei wird die These vertreten, dass die Formen der Unterdrückung nicht abgeschafft werden können, wenn man nicht den Kapitalismus bekämpft/abschafft. Was halten Sie von dieser These?

Nancy Fraser denkt, dass der Kapitalismus als System „race“ und Gender als Kategorien hervorbringt, um sich selbst zu erhalten. Sie versteht „race“ und Gender als Subsysteme des Kapitalismus. Ich stimme zwar zu, dass alle drei Felder mit einander verbunden sind, denke aber, dass sie ein großes System bilden, in dem das Patriarchat, die weiße Vorherrschaft und der Kapitalismus Logiken sind. Es ist eine Dynamik im Sinne eines komplexen Systems, in dem sich die einzelnen Teile entwickeln, verändern und gegenseitig beeinflussen. Es mag sein, dass wir Rassismus und Sexismus nicht loswerden können, wenn wir uns nicht mit dem Kapitalismus auseinandersetzen. Aber es stimmt eben auch andersherum, dass man den Kapitalismus nicht loswird, ohne Sexismus und Rassismus abzuschaffen. Fraser betont die Logik des Kapitalismus. Aber es gibt auch eine Logik des Sexismus, des Rassismus, der Heteronormativität und der Eugenik. Es gibt viele sich gegenseitig beeinflussende Logiken in diesem System. Verändert man eine Komponente hat dies Auswirkung auf alle anderen Phänomene. Wollen wir einen radikalen Wandel, müssen wir an allen Dimensionen des Systems gleichzeitig arbeiten. •

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